Die Welt scheint sich immer schneller zu drehen. Die Tage und Nächte fliegen vorüber. Jedes Jahr an Silvester erschrecken wir für einen Moment und denken: „Was, schon wieder ein Jahr vorbei?”.

Wir starren pausenlos auf unser Smartphone, wir lenken uns ab, mit Medienberichten, YouTube, Instagram oder WhatsApp. Die immer gleichen Routinen des Alltags halten uns gefangen in alten Mustern. Wir stumpfen immer mehr ab und je weniger wir eine Vision für unser Leben haben, desto mehr sind wir fremdbestimmt und ein Spielball der Umstände. Wir sind wie ein Boot verloren auf dem Ozean, zielloses Umhertreiben wird uns nirgendwo hinbringen. Schlimmer noch, zielloses Umhertreiben macht uns anfällig für Fremdbestimmung, anstatt unser Schicksal selbst in die eigene Hand zu nehmen, sind wir der Strömung hilflos ausgeliefert. Eine Vision zu entwickeln, bedeutet eine Landkarte zu entwickeln, mit der wir bestimmen können, wo wir waren, wo wir gerade stehen und wo wir hinwollen. Bevor wir bestimmen können, wo wir stehen, müssen wir uns mit unserer eigenen Vergangenheit beschäftigen. Denn wenn wir das nicht tun, wird uns das Gewicht der Ereignisse immer zurückhalten, denn Selbstsabotage und destruktive Gewohnheiten sind ein Resultat nicht verarbeiteter Erlebnisse. Doch wenn es uns gelingt, unsere Vergangenheit zu integrieren, die Gegenwart anzunehmen und eine Vision für die Zukunft zu entwickeln, werden wir zum Kapitän unseres eigenen Bootes und bestimmen unser Schicksal selbst.

Introspektion und Selbstreflexion sind von hoher Signifikanz in einer Zeit, in der schon kleine Kinder auf Smartphones starren, in einer Zeit, in der Gruppendenken und blinder Gehorsam vorherrscht. Die Gesellschaft braucht mehr denn je starke, unabhängige Menschen, die ihre Vergangenheit verstehen, an ihren Stärken und Schwächen arbeiten und eine machtvolle Vision für die Zukunft haben. Die Bereitschaft zu blindem Gehorsam, wie es in der Corona-Krise beobachtet werden konnten, ist das Resultat einer Sinnkrise und Orientierungslosigkeit in der Gesellschaft. Deswegen ist es von großer Wichtigkeit, innere Prozesse zu stärken, die selbstbestimmte Individuen hervorbringen.

Eine Methode, die das Individuum auf der Suche nach einem Sinn für das eigene Leben stärken kann, ist das expressive Schreiben. Im Folgenden werde ich diese Methode vorstellen und ihre Vor- und Nachteile erläutern.

Die Methode: Expressives Schreiben

Die Methode wurde von den Psychologen James W. Pennebaker und Joshua M. Smith in den 1980ern entwickelt. Es geht darum, belastende Ereignisse aus der Vergangenheit durch Aufschreiben zu verarbeiten. Die Methode gilt als eine der am besten erforschten Schreibtechniken, die es gibt – mehr als 150 Studien in Fachzeitschriften belegen die positiven Auswirkungen auf die körperliche und geistige Gesundheit. Der Unterschied zu anderen Schreibtechniken liegt darin, dass das Schreiben möglichst ungehemmt und unzensiert stattfindet. Es wird geschrieben, ohne den Stift abzusetzen und ohne auf Grammatik und Rechtschreibung zu achten. Das Geschriebene kann im Nachhinein korrigiert und bearbeitet werden. Ein weiteres Kernmerkmal dieser Methode ist, dass zwei Fragen möglichst präzise beantwortet werden sollen:

  1. Was ist passiert?
  2. Wie fühle ich mich deswegen?

Dabei ist es auch hilfreich, das Erlebnis in einen größeren Kontext einzubetten. Man kann sich fragen: Wer war ich damals als Mensch? Wer bin ich heute? Was für ein Mensch möchte ich in der Zukunft sein?

Potenzielle Gefahren des expressiven Schreibens

Das Aufschreiben von Ereignissen aus der Vergangenheit kann dazu führen, dass man die gleiche Situation innerlich noch einmal erlebt. Das Resultat ist, dass sich während des Schreibens Emotionen wie Trauer, Wut und Schuldgefühle manifestieren. Diese Emotionen sind Teil des Prozesses und sind meist nur vorübergehend. Nach dem Schreiben entsteht dagegen oft ein Gefühl der Erleichterung und Befreiung. Nichtsdestoweniger gibt es Risiken der Methode, die ich hier auflisten werde:

  1. Man schreibt seine tiefsten Gefühle auf und jemand liest den Text. Deswegen ist es wichtig, das Geschriebene entweder sorgfältig und geschützt aufzubewahren oder zu vernichten, schließlich geht es um den Schreibprozess, nicht um das Resultat.
  2. Die Rolle der Zuhörer/Leser. Wenn jemand negativ auf das Geschriebene reagiert, ist es eher schädlich. Aber auch das Gegenteil ist der Fall: Wenn eine Person ihre tiefsten Gedanken mitteilt und die Menschen wirklich zuhören, ist es sehr heilsam.
  3. Übermäßiges Analysieren: Tag für Tag über das gleiche Thema zu schreiben, ist nicht sehr hilfreich. Es besteht die Gefahr, dass man davon besessen wird.
  4. Wenn man innerhalb der letzten zwei oder drei Monate ein traumatisches Erlebnis hatte, kann es zu früh sein, darüber zu schreiben.
  5. Flip-Out-Regel: Wenn man das Gefühl hat, dass das Schreiben über ein Thema zu Kontrollverlust führen könnte, sollte man nicht darüber schreiben.

Die Vorteile des expressiven Schreibens

Nicht verarbeitete Traumata können sich psychosomatisch als Krankheiten manifestieren oder auf der mentalen Ebene eine Quelle negativer Gedanken sein. Das expressive Schreiben kann dabei helfen, den eigenen Gedanken und Gefühlen Struktur zu geben und dadurch kognitive Kapazität freisetzen. In anderen Worten, durch das expressive Schreiben bekommen wir den Kopf frei. Zusätzlich kann das expressive Schreiben dabei helfen, Stress zu verringern und den Schlaf sowie das gesamte Wohlbefinden zu verbessern. Der größte Vorteil ist, dass das Schreiben uns dabei hilft, einen tieferen Sinn aus der Vergangenheit zu extrahieren und somit dazu beiträgt, dass wir bessere Entscheidungen in der Zukunft treffen.

Es ist nicht immer offensichtlich, über welches Ereignis es am hilfreichsten ist zu schreiben, deswegen werde ich hier ein paar Kriterien für ein Schreibthema nennen. Nicht jeder hat ein schweres Trauma zu verarbeiten, deswegen kann man auch ein Ereignis wählen, das noch nicht vollständig verstanden wurde. Ein weiteres zentrales Kriterium ist, dass das Ereignis beim Erinnern negative Emotionen hervorruft. Außerdem ist es nicht immer hilfreich, eine Erinnerung hervorzurufen, wenn sie nicht von selbst auftaucht. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass es ein Thema sein sollte, das entweder mit Unklarheit und Verwirrung assoziiert wird oder negative Emotionen hervorruft.

Abschließend kann gesagt werden, dass das expressive Schreiben das Individuum bestärkt, einen Sinn für das eigene Leben zu finden. Warum ist dies signifikant für die Gesellschaft als Ganzes? Führt die Beschäftigung mit der eigenen Lebensgeschichte nicht zu einer narzisstischen und solipsistischen Haltung, die das individuelle Wohl über das der Gemeinschaft stellt? Das Gegenteil ist der Fall. Das expressive Schreiben ermuntert den Menschen, seine Kreativität zu entwickeln, es befähigt zur Selbstbestimmung und fördert eine holistische Sichtweise auf das Leben. Diese Eigenschaften sind essenziell für ein soziales Wesen, um in einer Gemeinschaft florieren zu können. Auf der anderen Seite bleibt der Mensch, der sich nicht selbst reflektiert, eine Marionette seines Unterbewusstseins und ist so anfällig für Manipulation und Fremdbestimmung. Denn wie Carl Gustav Jung schon sagte: „Solange du das Unbewusste nicht bewusst machst, wird es dein Leben lenken und du wirst es Schicksal nennen”.

Aus meiner eigenen Erfahrung kann ich sagen, dass das expressive Schreiben mein Leben fundamental verändert hat. Vor drei Jahren erlitt ich einen Unfall in Australien und wurde in einem Motorboot 30 Kilometer weit hinaus in den offenen Ozean getrieben. Auf dem Boot litt ich unter konstanter Todesangst und nachdem ich schon aufgegeben hatte, wurde ich nachts durch eine Drohne entdeckt. Das expressive Schreiben ist somit nach meiner eigenen Erfahrung ein machtvolles Instrument, um sich existenzielle Fragen nach dem Sinn von Leben und Tod zu stellen. Dass diese Fragen während der Corona-Krise untergegangen sind, war ein Grund für die massenhafte Panik und Konformität. Besteht der Sinn des Lebens nur darin, zu überleben? Oder geht es darum, das Leben auszudrücken, indem man viel draußen in der Sonne ist und seine Existenz mit Tanz, Spiel und Musik zelebriert? Das expressive Schreiben ist ein exzellentes Werkzeug, diese Fragen zu beantworten und ein selbstbestimmtes Leben zu fördern, in welchem die Bedürfnisse der Gemeinschaft und des Individuums gleichermaßen erfüllt werden. Ein Leben, das fremdbestimmt wird, ist zwar komfortabel, weil es keine eigene Verantwortung erfordert, aber letztendlich ist es nicht erfüllend und frustrierend. Das expressive Schreiben kann harte Arbeit bedeuten, aber zumindest eröffnet es die Perspektive auf ein Leben, das es wert ist, gelebt zu werden. Nehmen wir es in die eigene Hand!