Dieser Artikel wurde ursprünglich auf ync.li veröffentlicht, einem Projekt von Staufis.
Freiheit ist eines der Wörter, die zwar sehr häufig verwendet werden, aber oft wie ein leeres Blatt Papier wirken, auf das jeder sein eigenes Verständnis projiziert. Für jeden Diskurs der mit Freiheit zu tun hat, ist es essentiell, dass in etwa klar ist, was damit gemeint ist. Daher will ich in diesem Artikel mein Verständnis von Freiheit erörtern.

Die Corona-Maßnahmen haben wie sonst noch nie Freiheiten eingeschränkt. Nun kann man diese eingeschränkten Freiheiten jedoch klar unterscheiden, wobei auf der einen Seite stellvertretend die Freiheit steht, in den Urlaub zu fliegen, und auf der anderen Seite die Freiheit, Freunde und Familie zu sehen. Es ist offensichtlich, dass diese beiden Aspekte nicht äquivalent sind, da Ersteres wirklich eine gesellschaftliche Freiheit ist, also etwas, was überhaupt erst durch die Gesellschaft, oder sogar die Zivilisation, bereitgestellt und ermöglicht wird, wobei Letzteres etwas natürliches ist, was erst einmal nichts mit der Gesellschaft zu tun hat. Oder anders ausgedrückt: noch keine andere Zivilisation vor unseren hat die erste Art an Freiheit bereitgestellt, während es seitdem Menschen gibt, die zweite Art gibt.

Ein Bild, was diesen Unterschied veranschaulichen soll, ist das einer Mirabelle – wobei man hier auch jede andere Frucht mit einem Kern und einem Fruchtfleisch wählen könnte. Und um genau diese beiden Bestandteile der Mirabelle geht es hier, denn sie repräsentieren eben diese beiden Arten von Freiheit: Auf der einen Seite ist das Fruchtfleisch, das gut und süßlich schmeckt und das leicht verzehrbar ist; und auf der anderen ist der Kern, welcher natürlich nicht zum Verzehr gedacht ist, sondern vielmehr, naja, den Kern der Frucht ausmacht, aus welchem auch wieder neues Leben entstehen kann. Das Fruchtfleisch ist also die Freiheit in den Urlaub zu fliegen, der Kern ist die Freiheit andere Menschen zu sehen, die einem nahe stehen. Das Fruchtfleisch – die gesellschaftlich bereitgestellten Freiheiten – ist das, was leicht zu verzehren ist, was süß und allgemein für den sinnlichen Genuss ist. Ob es nun in den Urlaub fliegen, ins Konzert oder Kino gehen, oder sich etwas kaufen ist, diese Dinge sind allen Menschen der Gesellschaft zugänglich und benötigen nur eine finanzielle Gegenleistung. Sie sind des Weiteren ‚gut‘ für einen selber, beziehungsweise erfreuen einen, lassen einen positive Gefühle fühlen und haben als Ziel die ‚Glückseligkeit‘.

Doch lässt sich hierbei bereits eine wichtige Sache feststellen: wenn man allgemein zwischenmenschliche Beziehungen als einen Aspekte des Kerns der Mirabelle sieht, dann verdirbt ein fauler Kern auch den Rest der Frucht. Es ist egal wie toll, ‚exklusive‘, teuer und luxuriös ein Urlaub ist, wenn man mit den falschen Menschen dort ist, oder sich mit den Menschen mit denen man dort ist streitet, wird man keine gute Zeit haben. Das gleiche gilt beim Konzert oder im Kino, aber auch allgemein im alltäglichen Leben, denn mit wem man wohnt, ist stets wichtiger als wie man wohnt – was selbstverständlich nicht bedeuten soll, dass Letzteres unwichtig ist; doch die größte und teuerste Villa macht eine schlechte Ehe nicht wett, vielleicht nur in dem Sinne, dass man genug Platz hat, um sich aus dem Weg zu gehen… Genau das wird heute jedoch oftmals versucht; man versucht, manchmal vielleicht auch nur unbewusst, einen faulen Kern durch immer noch mehr, süßeres, besseres Fruchtfleisch zu überdecken, was jedoch ein künstlicher Vorgang ist – wie als würde man die Mirabelle mit Spritzmitteln behandeln, damit sie den Kunden im Supermarkt mehr anspricht. Und solche Herangehensweisen funktionieren oberflächlich, doch wenn man genau hin spürt, wenn man genau hin schmeckt, dann merkt man den faulen Kern, den giftigen Beigeschmack – man merkt die fehlende Verbundenheit und Liebe zu den anderen.

Das anfangs beschriebene Bild ist daher nicht ganz korrekt, da es selbstverständlich nicht nur gesellschaftliche ‚Freiheiten‘ sind, welche Freude bringen, sondern ein gesunder Kern erzeugt automatisch Fruchtfleisch, was die Sinne erfreut – ein gutes Gespräch, gemeinsames Kochen und Essen, ein Lagerfeuer in der Natur, zusammen etwas Schaffen; all diese Dinge hängen nicht direkt vom gesellschaftlichen Kontext ab, sondern existieren einfach so in der Welt und in der Natur. Auch sind diese Dinge wahrlich exklusiv, da sie vollkommen von den konkreten Menschen abhängen und das nichts ist, was man verpacken und verkaufen kann. Freunde kann man sich nicht kaufen, und entsprechend auch nichts, was mit Freunden zu tun hat.

Das etwas differenzierte Bild ist also wohl eher das von zwei Mirabellen: die eine, die man im Supermarkt kaufen kann, die jedem zugänglich ist, die normiert perfekte Form, Farbe, sowie Geschmack hat, die mit Spritzmitteln belastet ist, die auch zunehmend weniger Nährstoffe in sich trägt, und deren Kern letztendlich nicht in der Lage ist, neues Leben hervorzubringen; auf der anderen Seite ist der wilde Mirabellenbaum auf dem eigenen, verwachsenen Grundstück, der gesunde und kräftige Früchte hervorbringt, welche nicht technisch normiert sind, sondern sich unterscheiden – manch eine Mirabelle schmeckt nicht so gut wie die anderen, manche haben schlechte Stellen, bei manchen war schon ein Vogel oder Insekt am Werk – die Form ist stets ‚unperfekt‘, doch sind sie nicht behandelt, tragen all ihre natürlichen Nährstoffe in sich, und haben einen gesunden Kern, der neues Leben in sich trägt.

Der Trend unserer Zeit ist klar zu erkennen: Der Kern verkommt, wird immer kleiner und immer unfähiger neues Leben hervorzubringen, wobei das Fruchtfleisch immer weiter perfektioniert wird in Form, Aussehen, Geschmack. Das, was sinnlichen Genuss bedeutet, wird zunehmend losgelöst von dem, was es eigentlich hervorbringt, und zerstört es im Endeffekt. Denn das ist der springende Punkt: die eine Art der Freiheit wird durch die andere verdrängt. Das kann erst einmal sehr unintuitiv wirken, denn wieso sollte eine Gesellschaft die sowohl Supermarkt Mirabellen hervorbringt, aber auch die Garten Mirabellen in vollem Maß zulässt und erlaubt, nicht möglich sein? Hierbei muss man dieses Bild eben als solches sehen, da es noch ein unpassender Vergleich ist, da man ja sehr wohl noch einen Fruchtbaum im Garten stehen haben darf.

Wenn man sich nochmal den Fall Corona anschaut, kann man in diesem Kontext körperliche Gesundheit als gesellschaftliche Dienstleistung sehen, beziehungsweise wurde es eben so gesehen. Soll heißen, das nicht länger ein gesunder Kern zu einem gesunden Fruchtfleisch führte – ein gesunder Geist und eine gesunde Lebensweise führen zu einem gesunden Körper –, oder in der Masse führen konnte, sondern, dass nur durch gesellschaftliche, künstliche, technische Intervention das Ziel einer normierten, einheitlichen und dadurch vorhersagbaren Gesundheit der Masse sichergestellt werden konnte. Und wenn man befürchtet, dass eine faule Frucht im Korb den Rest verdirbt, dann kommt man nicht um die Schlussfolgerung, dass man eben alle Früchte behandeln muss. Die Gesundheit des Kerns ist nicht berechenbar, auf diese kann man sich nicht verlassen. Der Mensch versteht Leben nicht, er kann es also nicht aus etwas Totem schaffen, er kann nur etwas, was bereits das Wunder des Lebens in sich trägt, nehmen und verändern; seien das die dystopischen Versuche und ‚Errungenschaften‘ der Wissenschaft oder eben das natürliche Zeugen von Kindern – Leben kann nur von etwas geschaffen werden, was bereits lebt. Wenn die behandelten Früchte dann verminderte Abwehrkräfte haben, und wenn die Körbe immer größer werden und immer mehr Früchte zusammen liegen, dann wird es immer wichtiger Uniformität durchzusetzen und entsprechend das Unberechenbare auf ein Minimum zu reduzieren. Doch so verhält es sich auch in anderen Aspekten, auch wenn der Zusammenhang dabei oft nicht offensichtlich ist.

Die Supermarkt Mirabelle ist letztendlich ein technisches Produkt, und je besser diese werden soll, desto mehr Technik ist von Nöten. Doch diese Technik entsteht ja nicht aus dem Nichts, sondern sie benötigt ein passendes Milieu – konkret benötigt es Bildungsinstitutionen, welche Wissenschaftler, Experten und Spezialisten hervorbringen, es benötigt weiter Firmen und Konzerne, welche die Mittel für hoch-technische Forschung haben, noch weiter benötigt es Lobby, um die Politik zu beeinflussen, damit technischer Fortschritt nicht von sentimentalen, ideologischen, irrationalen und untechnischen Faktoren unterdrückt wird; es geht aber noch weiter, denn es benötigt natürlich auch Konsumenten, die diese Produkte kaufen, sonst rentiert sich das ganze Unterfangen nicht; es benötigt daher Werbung, welche wiederum einen riesigen Komplex an Forschung, Entwicklung und Fortschritt benötigt, beispielsweise in der Psychologie, doch auch eine infrastrukturelle Veränderung wird demnach benötigt, sei das in Form von Werbetafeln und -flächen, sei das in Form von Zelltürmen für mehr Empfang an digitalen Endgeräten, für mehr digitalem Konsum, für mehr digitale Werbeanzeigen und so weiter – ein endloser Rattenschwanz lässt sich erkennen; all das benötigt letztendlich die Form einer anonymen Massengesellschaft. Und all das lässt sich zusammenfassen, wenn man die Zivilisation in der wir leben, als die technische Zivilisation erkennt, in der jeder Aspekt des Lebens technisch wird und werden muss.

Ein Aspekt des Wortes ‚Freiheit‘ ist des weiteren die Frage, wovon man denn frei ist. Im Falle der Supermarkt Mirabelle, sprich des technischen Fortschritts und der gesellschaftlichen Freiheiten, wie in den Urlaub fliegen zu können, bezieht sich ‚frei‘ auf die Beschränkungen der realen Welt: Frei von der Realität von Raum und Zeit, soweit eben technisch möglich, aber auch frei von Bindungen und Einschränkungen durch andere Menschen. Kommunikations-, Transport- und Logistiktechniken abstrahieren von der realen Welt, so dass es egal ist, dass Bananen nicht in den eigenen Breitengraden wachsen oder dass Mirabellen nicht im Winter wachsen, der Supermarkt hat sie trotzdem im Angebot. Es ist egal, ob man in einem Land und in einer Kultur fremd ist, dank Reiseführern, Touristenangeboten und Internetdiensten für Karte und Übersetzung findet man sich überall irgendwie zurecht. Und auch Sprache an sich ist nicht ausgenommen von einer technischen Zentralisierung, Standardisierung und Normierung: Dialekte verschwinden mit der Zeit, Sprachen sterben – zusammen mit ihren Kulturen –, die Welt fährt sich zunehmend mehr auf eine Hand voller Weltsprachen ein, an erster Stelle Englisch. Welch Freiheit, mit jedem Menschen in der Welt kommunizieren zu können, weil jeder Englisch spricht! Welch Freiheit in jedes Land der Welt reisen zu können, weil man überall zurecht kommt! Welch Freiheit Obst und Gemüse aus der ganzen Welt im örtlichen Supermarkt zu finden, weil globaler Handel immer effizienter wird!

Doch wenn die Optimierung des Fruchtfleisches den Verfall des Kerns mit sich bringt, dann erkennt man rasch, dass globaler Handel lokalen Handel vertreibt und technisch notwendige Regularien für Ersteren dazu führen, dass man nicht ohne weiteres seine Gartenmirabellen öffentlich verkaufen kann. Man erkennt auch, dass Tourismus das Wesen eines Landes oder eines Gebietes formt, sodass Einheimische mit der Zeit vertrieben werden und einst gelebte Kultur immer mehr zum Ausstellungsstück und zur Attraktion wird, immer mehr zu einer leeren Hülle ihrer Selbst wird. Aber auch, dass die eigene Sprache, die eigenen Redensarten, der eigene Dialekt, in der technischen Welt von heute keinen Platz mehr findet – der Kollege, dessen Dialekt man nicht versteht, steht maximaler Effizienz im Weg.

Und ja, die Verführung der Effizienz ist groß; doch nicht nur der im engeren Sinne verstandenen Technik, sondern allgemein verführt das technisch bessere: Der Computer oder das Auto das schneller ist, der Urlaub der für den gleichen Preis mehr bietet, die Kartenzahlung die schneller und bequemer ist, als sich Sorgen um ausreichend Bargeld im Geldbeutel machen zu müssen, das Essen im Restaurant, das besser schmeckt und weniger Aufwand bereitet als zu hause selber zu kochen, oder auch die Mirabelle im Supermarkt die besser aussieht – und das ohne die Arbeit und den Aufwand eines eigenen Baums! Wie kann man zu dem allen ‚Nein‘ sagen, wenn es doch nun mal einfach technisch besser ist.

Bisher wurde hauptsächlich das betrachtet, was oft auch äußere Freiheit genannt wird, sprich Freiheit die in der physischen Realität existiert. Die Freiheit von realen Beschränkungen der echten Welt spielt sich definitionsgemäß nur in diesem Raum ab. Und wenn man zurück an die Corona-Einschränkungen von Kontakt zu anderen Menschen denkt, sprich an das, was hier mit dem Mirabellen Kern zu tun hat, sieht man natürlich auch physische Einschränkungen. Jedoch sind menschliche Verbindungen natürlich nichts physisches, sondern existieren im Geist, sie sind also innerlich. Auch unterscheidet man bei Freiheit oft zwischen äußerer und innerer Freiheit. Bisher wurde äußere Freiheit betrachtet, wobei diese unterschieden wurde zwischen gesellschaftlich bereitgestellten Freiheiten, die als Ziel die Freiheit von Gegebenheiten der Realität haben, und natürlichen Freiheiten, wobei das Bild erst respektiv Mirabellen Fruchtfleisch und Kern war, und dann die Mirabelle aus Supermarkt und Garten. Wenn man nun weiter denkt, dass der Kern der Mirabelle das Zwischenmenschliche ist, dieses aber nicht von der äußeren Freiheit abhängt, bezogen auf zwischenmenschliches, sondern ein geistiger Aspekt ist, muss man nun innere Freiheit betrachten.

Es wird wohl jeder zustimmen, dass ein Drogenabhängiger nicht sehr frei ist, denn er ist ja abhängig von Drogen. Nun hat diese Überlegung aber nichts mit äußerer Freiheit zu tun, da diese Person ebenfalls all die gesellschaftlichen sowie natürlichen Freiheiten hat, wie alle anderen. Darauf kann das intuitive Urteil der Unfreiheit also nicht abzielen. Vielmehr ist es die Fähigkeit freie Entscheidungen zu treffen, welche bei einem Drogenabhängigen stark eingeschränkt ist, da der externe Faktor der Drogen einen starken Einfluss auf ihn hat und seine Entscheidungen beeinflusst. Nun mag dieses Beispiel extrem wirken, doch heute nehmen viele Dinge immer mehr einen drogenähnlichen Charakter an: Fast-Food ist Drogen für den Geschmack, Pop-Musik Drogen für die Ohren, Serien, Videospiele, soziale Medien, Pornografie Drogen für die Augen. Diese und viele mehr Dinge sind gesellschaftliche bereitgestellte Techniken, welche stets weiter optimiert und verbessert werden, was jedoch auch bedeutet, dass sie den Menschen immer mehr in ihren Bann ziehen können. Nun fehlt ihnen selbstverständlich der direkte chemische Aspekt der Abhängigkeit – obwohl Fast-Food und Softdrinks das wohl auch bedienen, soweit zulässig –, wodurch die Folgen eines Entzugs weniger drastisch ausfallen, und entsprechend auch die Beeinflussung von Entscheidungen milder, beziehungsweise subtiler ist. Wie bei tatsächlichen Drogen baut man auch bei diesen quasi-Drogen eine Toleranz auf: wer Fast-Food isst, für den wird normales, selbst gemachtes Essen langweilig und grau schmecken; wer ständig Musik auf den Ohren hat, für den wird die Stille unerträglich und auch selbst gemachte Musik wird im Vergleich schlecht wirken; wer obsessiv Pornografie schaut, für den wirkt echter Kontakt unspannend. All das bewegt sich natürlich auf einer Grauskala, nichts hier ist schwarz-weiß; doch die Tendenz ist klar.

Doch es sind nicht nur diese klar erkennbaren Dinge, welche den Menschen verführen können. Wie bereits erwähnt ist das Bessere allgemein eine Verführung, insbesondere wenn es klar numerisch ausdrückbar ist. Richtet man sich nun aber stets nach der Technik, sprich nach dem, was technisch besser ist, trifft man keine freien Entscheidungen, sondern die Entscheidungen werden durch die Zahl diktiert. Wie bereits beschrieben ist die Supermarkt Mirabelle der Gartenmirabelle technisch betrachtet überlegen, wodurch die Wahl der Ersteren offensichtlich erscheint – ist es nicht die innere Freiheit, sich für dieses Bessere zu entscheiden? Bei dieser Frage ist es wichtig, die Situation als Ganzes zu betrachten, denn es ist ja nicht so einfach, dass man das eine über das andere wählt und sonst nichts passiert. Ja, man erspart sich damit den Aufwand, die Arbeit und sogar das Leid, einen eigenen Mirabellenbaum bewirten zu müssen, doch damit verliert man auch die Freiheit, die damit einhergeht – frei von der Gesellschaft, frei von wirtschaftlichen Entwicklungen und Lieferengpässen, frei von finanziellem Zwang, frei von Transport zum nächsten Supermarkt und so weiter. In kurz: das Bessere hängt, aufgrund seiner technischen Natur, von der Gesellschaft und der Zivilisation als Ganzes ab. Während die Abwägung in die eine Richtung offensichtlich ist – Supermarkt ist bequemer, günstiger, besser –, ist die andere Richtung nicht sichtbar, nicht spürbar, versteckt.

Ein Mirabellenbaum ist jedoch in der Regel kein triviales Unterfangen und oft benötigt man dazu andere Menschen, beispielsweise um den Garten darum herum in Stand zu halten, um die Mirabellen zu ernten und so weiter. Daher ist ein legitimer Einwand, dass man dadurch ja auch wieder abhängig ist, und zwar von anderen Menschen. Tatsächlich ist genau diese menschliche Abhängigkeit ein Aspekt, der in die Freiheit der Supermarkt Mirabelle hineinspielt, in dem Sinne, dass das Ziel der Technik allgemein auch ist, das Individuum freier von zwischenmenschlichen Abhängigkeiten zu machen, denn diese sind in gewisser Weise eine natürliche Gegebenheit und Beschränkung. Das ist wieder der Punkt, dass versucht wird, das Fruchtfleisch zu optimieren, unabhängig vom Kern. Doch wie gesagt spielt der Kern zwingend eine Rolle und kann den Rest der Frucht in Mitleidenschaft ziehen, sollte er faul sein. Die Lösung: den Kern zunehmend verkleinern mit dem Ziel ihn abzuschaffen, denn dann hat er keinen Einfluss mehr – wer alleine in den Urlaub fliegt, kann auch keine zwischenmenschlichen Probleme haben, welche den Genuss des Urlaubs an sich ruinieren können. Je weniger emotionale Bindungen man zu anderen hat, desto freier ist man von ihnen und desto mehr kann man machen, was man will – desto mehr kann man seine gesellschaftlichen Freiheiten auskosten.

Doch ist das alles gut für den Menschen? Denn auch wenn diese Annahme heute implizit als wahr angenommen wird, es ist nicht offensichtlich, dass etwas, was technisch besser ist, auch für den Menschen besser ist. Wie erwähnt sind die Folgen in die eine Richtung klar, in die andere jedoch nicht – kann man dann noch von einer freien Entscheidung sprechen? Hierbei spielt innere Freiheit die entscheidende Rolle, denn auch wenn eine Drogenabhängigkeit ein extremes Beispiel ist, so ist auch ihm oft nur eine Richtung bewusst: die, die er direkt spürt. Der langsame Abstieg, das Verlieren von allem anderen was außerhalb der Sucht steht, von Gesundheit, von Zeit, von Frieden, von zwischenmenschlichen Beziehungen, das wird manch einem erst vollkommen bewusst, wenn er ganz unten ist, andere erkennen es nie. Mit jedem Schritt denkt er, er habe ja noch Kontrolle, könne ja jeder Zeit aufhören, könne sich ja dagegen entscheiden – wenn man die Grenzen seiner Ketten nicht austestet, merkt man sie bekanntlich nicht, und man merkt auch nicht, wie sie immer enger werden. Doch wieso sollte er damit aufhören, wenn die Substanz ihn nun mal einfach besser fühlen lässt, wieso auf die Freude, auf den Vorteil verzichten? Ist es nicht letztendlich dennoch seine freie Entscheidung, wenn er sich nun mal einfach dafür entscheidet?

Innere Freiheit kann dem entsprechend nur die Freiheit sein, das zu wählen, was für einen selbst das Beste ist, was auch das bedeutet, was einen selbst freier macht, sowohl innerlich als auch äußerlich. Das steht nun aber den gesellschaftlich bereitgestellten Freiheiten diametral entgegen, da diese aufgrund ihrer technischen Natur stets dazu tendieren, den Menschen mehr und mehr in ihren Bann zu ziehen, und dadurch unfreier machen. Denn auch, wenn sie ihn freier von natürlichen Gegebenheiten machen, ersetzen sie diese mit technischen Gegebenheiten, von welchen der Mensch dann abhängig ist. Während er aber auf die natürlichen Gegebenheiten einen Einfluss hat, ist er den technischen machtlos ausgeliefert.

Ein weiterer entscheidender Punkt ist, dass gesellschaftliche Freiheiten stets mit einer Dimensionsreduktion einher gehen. Diese ist jedoch hauptsächlich geistig. Soll heißen: Wenn man sich sein Essen selber kocht, oder wenn man bekocht wird, dann ist es nicht nur das physische Essen – die Qualität der verwendeten Zutaten, das Zusammenspiel dieser, und so weiter –, die den Geschmack ausmachen, sondern eben auch der Aspekt des ‚selber machens‘ spielt ebenfalls mit rein. Dieser entfällt jedoch, wenn man Essen geht oder sich Essen liefern lässt, da das gesellschaftliche Dinge sind, die daher heutzutage anonym sind. Man hat keinen Bezug mehr zu dem Essen, man weiß nicht, was genau drin ist, wie es gemacht wurde und so weiter. Nicht, dass man über diese Dinge bewusst nachdenken würde, dennoch sind es Punkte die einen großen Einfluss haben können. Und auch hier ist es so, dass wenn man vermehrt oder überwiegend ‚anonymes‘ Essen isst, man mit der Zeit den Sinn für diese geistigen Dimensionen und Qualitäten verliert. Wie oben bereits erwähnt, schmeckt selbst gemachtes Essen im Vergleich zu Fast-Food, wenn man nur die rohen Eigenschaften des Geschmacks betrachtet, in aller Regel langweilig.

Diese Dimensionsreduktion kann aber auch tatsächlich sein, also nicht nur geistig. Betrachtet man beispielsweise Pornografie, sieht man eine Reduktion der verwendeten Sinne, denn dabei sind nur Augen und Ohren involviert. Berührung, Geruch und Geschmack spielen bei Pornografie natürlich keine Rolle, da diese nicht simuliert werden können. Aber auch wenn sie es könnten, würde immer noch die geistige Dimensionsreduktion stattfinden, die auch darin besteht, dass es bei Pornografie gar nicht um einen selbst geht. Man ist einerseits nur Zuschauer, partizipiert also nicht bei der Sache an sich. Und andererseits ist es nicht einmal die echte Sache, sondern man schaut sich nur eine Abbildung der echten Sache an – im übertragenen Sinne sind das nur die Schatten. Doch diese Dimensionsreduktion bringt, wie bereits erwähnt, entsprechende Freiheiten mit sich: Frei von Raum und Zeit, allen zugänglich und so weiter. Und bei tatsächlichen Drogen, sowie aber auch den anderen, ‚harmloseren‘ Beispielen, die bereits aufgeführt wurden, ist es in einem gewissen Sinne das Gleiche.

Was dabei heraus sticht, ist, dass diese Dimensionsreduktion letztendlich so weit gehen kann, dass man es eigentlich nur noch mit einer Dimension zu tun hat: Intensität. Und das findet bei allen bisher erwähnten Beispielen statt. Sei das eben die Menge an verschiedenen, und die Extremität der pornografischen Eindrücke, die Dosis und Härte der Drogen, der Gehalt an Salz, Fett und Zucker des Essens, oder die Lautstärke der Musik. In diesen und allen ähnlichen Fällen ist es klar, dass nur hochspezialisierte und hoch-technische Industrie diese Intensität zu erhöhen vermag. Das ist aber nur durch eine Reduktion an Dimension möglich, denn all diese Dinge sind technisch, und Technik benötigt Standardisierung und Gleichheit. Doch muss ‚Industrie‘ hier nicht zwangsweise Fabriken, Wissenschaft, Produktion und Co. bedeuten, vielmehr ist es heute die digitale Industrie, welche immer mehr die Überhand gewinnt – und diese digitale Industrie basiert selbstverständlich auf physischer Industrie.

Hier kann man nun einwenden, dass doch dieser Wandel sehr wohl auch zu einer gewissen Erweiterung an Dimension führt. Dadurch, dass beispielsweise heutzutage jeder die Möglichkeit hat, selber Musik zu produzieren und diese im Internet zu veröffentlichen, hat der Mensch mehr Auswahl denn je, was auf dem ersten Blick der Beobachtung der Dimensionsreduktion entgegensteht. Doch verwechselt dieser Einwand den Inhalt mit dem Rahmen: Es ist der Rahmen, welcher immer eingeengter wird, darauf bezieht sich der Begriff der Dimensionsreduktion. Gleichzeitig hat das zur Folge, dass der Inhalt sich immer mehr differenziert, , und zwar im Verhältnis zur Verkleinerung des Rahmens. Es ist, als würde man versuchen, einen Würfel durch ein extrem großes Quadrat zu ersetzen. Man kann hier auch in einem gewissen Sinne davon sprechen, dass Qualitäten der Quantität ‚geopfert‘ wird. Auch das verläuft selbstverständlich auf einer Grauskala und sollte nicht als schwarz-weiß verstanden werden. Des Weiteren geht dieser Wandel langsam voran. Um bei dem Beispiel der Musikproduktion zu bleiben: Selbstverständlich kann man heutzutage noch ein Instrument lernen, argumentativ ist es heute zugänglicher denn je1, jedoch muss man beobachten, dass immer weniger Menschen tatsächlich ein Instrument spielen können. Je weniger man in einer Gemeinschaft lebt, in der man zusammen musiziert, je mehr Stress und Zeitdruck der Alltag erzeugt – auch schon im Kindesalter –, und je mehr digitale Musik echte Musik verdrängt, desto mehr schwinden auch die entsprechenden Fähigkeiten, sowie die Motivation, sie zu erlernen.

Des Weiteren ist es schwierig, ein Instrument zu erlernen; und wenn man zurück auf die Analogie des Mirabellenbaums blickt, ist es klar, dass auch das schwierig ist, viel Arbeit benötigt und ‚unbequem‘ ist. Ein Aspekt vom Zusammenhang zwischen äußerer und innerer Freiheit ist auch, dass nur Tugenden wie Stärke, Disziplin, Emotionskontrolle und so weiter zur ‚Mirabellenbaum Freiheit‘ führen können – es ist also die Tugend allgemein verstanden, welche einen zu dieser Art der äußeren Freiheit führt und die innere Freiheit charakterisiert2. Andererseits ist es demnach der Mangel solcher Eigenschaften, der zu Notwendigkeit und dann eben auch den gesellschaftlichen Freiheiten führt, womit der Aspekt der Abhängigkeit mit inbegriffen ist. Soll heißen: Wer nicht tugendhaft genug ist, kann nicht – wenn auch ‚nur‘ geistig –, abseits der Massengesellschaft existieren; diese Gesellschaft bietet an, jeden mitzutragen der ihr im Gegenzug seine Loyalität, Energie und Zeit gibt. Das ist einer der Kernpunkte der modernen Welt und etwas das sich in jedem Bereich des Lebens widerspiegelt. Beispielsweise kann man es klar und deutlich sehen, wenn es darum geht Geld zu verdienen: bei einer großen Firma angestellt zu sein ist für viele attraktiv, denn es liegt auf der vorgegebenen Bahn, man muss nur in die gleiche Richtung gehen wie in Schule, Ausbildung oder Universität um im Angestelltenverhältnis zu landen; das bedeutet auch, dass es minimalen Aufwand benötigt, in dem Sinne, dass es keine maßgebliche Eigeninitiative verlangt – eine Bewerbung zu schreiben ist wohl kaum maßgeblich –; und vor allem bringt es ‚Sicherheit‘, man weiß also sicher, wie viel Geld man wann bekommt und ist diesbezüglich auch rechtlich abgesichert; aber auch hängt dieses Geld nur von einer bestimmten Funktion ab, die man im Kontext seiner Arbeit vollrichten muss. Wenn man das mit einer Selbstständigkeit vergleicht, wirkt es komisch, wieso sich irgendjemand gegen ein Angestelltenverhältnis entscheiden würde: es benötigt große Eigeninitiative, man muss ganz bewusst die vor-projizierte Bahn der Bildungseinrichtungen verlassen, es bringt einem überhaupt keine Sicherheit und ist (sehr) risikoreich; man muss sich, vor allem wenn man kein Geld hat um andere zu bezahlen, um alles selber kümmern – Produktion, Einkauf, Akquise/Marketing, Kommunikation, Management, Zeiteinteilung, Versicherungen, Buchhaltung, Steuern, etc. –; man trägt eben die komplette Verantwortung. Keine Sicherheit, viel Risiko, mehr Zeit- und Energieaufwand, sowie alle Verantwortung zu tragen sieht auf Papier erst mal nach einem ziemlich schlechten Deal aus. Und das Gleiche gilt auch für den Mirabellenbaum im Garten: Viel Aufwand und Arbeit, keine Garantie oder Sicherheit für irgendwas, und volle Verantwortung für den Baum – klingt nicht so gut, wenn die Alternative ist, in den Supermarkt zu gehen und all diese Extraschritte zu überspringen um zum, dort durch Regularien qualitativ gesicherten, Endprodukt zu gelangen. Und das gleiche gilt auch bei Musik: wieso sich den Aufwand machen um über Jahre Instrument zu lernen, wenn man das gleiche Resultat – die Musik – auch über einen Bluetooth-Lautsprecher hören kann.

In all diesen Beispielen ist klar, dass das Resultat in dem einen Fall ein Erzeugnis der Gesellschaft ist – große Firmen, Supermarkt, Lautsprecher –, während im anderen Fall das Resultat unabhängig geschaffen wurde – Selbstständigkeit, eigener Baum, die eigene Fähigkeit das Instrument zu spielen. In dem einen Fall ist man demnach frei von Anstrengung und von Unbequemlichkeit, während man im anderen Fall frei von all dem ist, was außerhalb seiner selbst liegt. Wenn man es so ausdrückt kann man auch den Sprung wagen und die Dinge noch zugespitzter ausdrücken, auch wenn sie wortwörtlich so natürlich nicht sind: in dem einen Fall ist man frei von seiner selbst, im anderen frei von allem außerhalb seiner selbst. Zu ‚einem selbst‘ sollen auch die Menschen um einen herum zählen, denn natürlich ist nichts von dem genannten ohne andere Menschen möglich; doch sind es hierbei eben konkrete, echte und unaustauschbare Menschen, zu denen man einen direkten und persönlichen Bezug hat. Vielleicht wäre es also besser zu sagen, dass man im einen Fall frei ist vom eigenen Leben, sprich man ist unabhängig von Freunden, Familie und allgemein dem menschlichen Umfeld in dem man lebt; und im anderen Fall ist man frei von alledem, das außerhalb des eigenen Lebens liegt. All das soll natürlich nicht im Sinne eines schwarz-weiß Denkens verstanden werden, es ist klar, dass all das auf einer Grauskala verläuft – doch kann es zu einem Verständnis dieser beitragen, die Extrempunkte zu betrachten.

Noch allgemeiner betrachtet, findet ein Wandel vom Konkreten zum Abstrakten statt; sprich die konkrete Freiheit des Menschen wird der abstrakten Freiheit der Menschheit ‚geopfert‘. An dieser abstrakten Freiheit kann der Mensch teilhaben, doch nur begrenzt, und nur, wenn er entsprechende persönliche Opfer darbringt – er muss Teil der Gesellschaft sein, um deren Möglichkeiten nutzen zu können. Ja, Distanz kann heute einfacher überbrückt werden denn je, die Welt wird dadurch zugänglicher, das Individuum kann immer größere Strecken zurücklegen, gewinnt an Freiheit über den Raum – doch fühlt es sich auch danach an, im Alltag, in der überfüllten Stadt, im Stau, im Zug, im Büro? Das reale Leben wird immer mehr eingeengt zugunsten der kleinen, kurzen, ekstatischen, weiten und traumhaften Urlaube, in denen man versucht Monate an Großraumbüro durch Tage am Strand auszugleichen. Die monotone Langeweile der Arbeit kann nur durch maximale Aufregung und Erheiterung wett gemacht werden. Die Insignifikanz der eigenen Existenz kann nur durch den Traum des Superhelden auf der Leinwand kompensiert werden.

 
 
 

Wie eine Heuschreckenplage überkommt die moderne Menschheit den Planeten und degradiert den Einzelnen zu einem Zahnrad der uniform grauen Masse. Als Ganzes ist der Strom der Masse stark, doch nur indem jedes Teil davon zu einem berechenbaren, unfreien Element gemacht wird. Die Stoßkraft der Masse nennt man heute ‚Freiheit‘; das letztere ist die tatsächliche Unfreiheit des Menschen. Die Lösung für den Einzelnen: soweit es geht Ausbruch aus der Masse, die Technik überwinden, Stärkung und Nährung des Kerns, das heißt: Zuwendung zur Tugend; all diese Dinge gehen Hand in Hand in eine Richtung.

 


  1. Auch hier: jeder hat heute Zugriff auf Anleitungen im Internet wie man sich etwas selber beibringen kann, während aber Lehrer in der echten Welt immer mehr schwinden, wodurch wiederum ihre Preise entsprechend ansteigen, wodurch mehr Menschen dazu gedrängt werden, es sich selbst beizubringen und so weiter. Auch hier kommt es über die Zeit zu einer Dimensionsreduktion.↩︎
  2. Mein Verständnis der Tugend ist das der Stoiker, wie von Seneca und Mark Aurel – und dadurch natürlich auch mein Verständnis von (innerer) Freiheit. Doch geht es hier ja darum den Begriff aus heutiger Sicht und im heutigen Kontext zu betrachten. Hier ist nun die Schnittstelle zwischen dieser Betrachtung und einem älteren Verständnis davon.↩︎
 
Dieser Artikel wurde ursprünglich auf ync.li veröffentlicht, einem Projekt von Staufis.