Ein Thema, das in den letzten Tagen und Wochen in jeglichen Medien präsent war, ist die EU-Verordnung 2023/5, welche sich mit dem komplizierten Namen „Genehmigung des Inverkehrbringens von teilweise entfettetem Pulver aus Acheta domesticus (Hausgrille) als neuartiges Lebensmittel“ [Q1] schmücken darf. Während die einen sich aufregen, dass Insekten jeglichen Lebensmitteln beigemischt werden, sagen die anderen, dass Insekten doch schon sehr lange in Lebensmitteln enthalten sind und die Aufregung unverständlich sei. Insekten hin oder her, ob man das jetzt gut findet oder nicht, sollte man sich ein paar Punkte in dieser Verordnung anschauen. Diese stellen m. M. n. ein Problem für die freie Marktwirtschaft, die Gesundheit als auch die Transparenz der Wissenschaft dar. Ein Drama in 6 Akten.
Akt 1: Der Antragsteller
Die EU hat sehr strenge Regeln in Bezug auf das Inverkehrbringen von Lebensmitteln aus dem EU-Ausland in das EU-Inland. So haben wir hier z. B. viel strengere Vorgaben für gentechnisch veränderte Lebensmittel im Vergleich zu den USA. Ein Unternehmen, welches im EU-Ausland sitzt und sogenannte „neuartige Lebensmittel“ einführen möchte, welche noch nicht auf der Unionsliste für neuartige Lebensmittel stehen, muss einen Antrag stellen. Am 24. Juli 2019 stellte das Unternehmen Cricket One Co. Ltd einen Antrag, diese Unionsliste auf „teilweise entfettetes Pulver aus Acheta domesticus (Hausgrille)“ zu erweitern [Q1]. Die Firma sitzt in Vietnam und wie der Name Cricket (engl. für Grille) schon besagt, vertreibt und vermarktet sie sowohl Grillen als auch Produkte der Grille, wie das Pulver, welches ab dem 24. Januar 2023 in die EU eingeführt werden darf. Jetzt mag man meinen, dass daran nichts faul sei. Es wurde ein Antrag gestellt, ein bürokratischer Aufwand aufgebracht, den jedes Unternehmen an die EU stellen darf. In Artikel 3 der Verordnung wird diesem Unternehmen jedoch für die folgenden fünf Jahre das alleinige Recht an der Einfuhr dieses Pulvers zugesprochen. Innerhalb dieses Zeitraumes darf ein weiterer Antragsteller nur mit Zustimmung der Cricket One Co. Ltd unter Berücksichtigung der wissenschaftlichen Daten ein Lieferant werden [Q2]. Dieser Artikel 3 stellt uns vor Herausforderungen, welche in den nächsten Abschnitten näher erläutert werden.
Akt 2: Die freie Marktwirtschaft
Wer in Wirtschaftskunde aufgepasst hat, weiß, dass in Deutschland und auch in der EU eine freie Marktwirtschaft gilt oder gelten sollte. Hier wird der Markt durch Angebot und Nachfrage bestimmt, die Regierung übernimmt die Funktion eines „Wächters“, das heißt, sie sorgt dafür, dass keine Kartelle, Monopole oder unfaire Wettbewerbstaktiken entstehen, bzw. verwendet werden. In der sozialistischen Marktwirtschaft hingegen, wie sie in der DDR üblich war, wird der Markt durch die Regierung geregelt, nicht durch Angebot und Nachfrage.
Für den Käufer (hier: den Verbraucher) ist es immer ungünstig, ein Anbietermonopol zu haben. Hier kann er nur aus einem Anbieter wählen und ist somit von dessen Preisen, Herstellungsprozessen, Regularien und Inhaltsstoffen abhängig. Ein Monopol für den Anbieter ist günstig, da dieser die alleinige Kontrolle über die oben genannten Mechanismen hat. Der Antrag durch Cricket One ist kein Eingriff in die freie Marktwirtschaft, aber durch den Ausschluss anderer Mitbewerber (außer von Cricket One selbst zugelassenen Mitbewerbern) ist ein künstliches Monopol geschaffen und die freie Marktwirtschaft eingeschränkt. Zumindest für die nächsten fünf Jahre. Doch eine bewusste Zulassung eines Anbietermonopoles, sei es nur für einen Tag, stellt einen Eingriff in die freie Marktwirtschaft dar.
Akt 3: Die wissenschaftlichen Daten und gesundheitlichen Risiken
Schon im Jahr 2018 brachte die Verbraucherzentrale Hamburg (VZHH) eine Übersicht mit Insekten und ihren Nährwerten heraus [Q3]. Auf diese möchte ich nun nicht näher eingehen. Das PDF-Dokument ist online einsehbar. Interessant jedoch: auf Seite 1 im Abschnitt „Unabhängige Untersuchungen“ findet sich nur der Eintrag „Gibt es leider kaum“ [Q3]. Eben diese VZHH weist in einem am 19.01.2023 upgedateten Artikel auf die Gefahr für Allergiker hin [Q4]. Dies deckt sich mit den uns bekannten Informationen: das allergene Potenzial von Insekten ist noch nicht genauer erforscht. Vermutet wird aber, dass Menschen mit einer Allergie gegen Hausstaubmilben, Garnelen und allgemein Schalen- und Krustentieren auch gegen das Pulver der Hausgrille allergisch reagieren. Hier muss eine entsprechende Warnung auf dem Etikett angebracht werden [Q4]. Studien und Untersuchungen zu möglichen Allergenen sollen laut EU und der veröffentlichten Verordnung eingeleitet werden [Q1]. Auch muss eine klare Kennzeichnung auf den Lebensmitteln erfolgen, da durch die Zugabe von Insekten auch Allergene aus dem Futter der Insekten in das Pulver gelangen können [Q1]. Hierbei müssen jedoch auch noch umfangreichere Untersuchungen eingeleitet werden.
Die wissenschaftliche Datenlage ist aktuell (noch) sehr dünn. Alarmierend darf es aber sein, dass der Antragsteller Cricket One neben seinem Antrag am 24. Juli 2019 auch einen Schutz seiner Daten und wissenschaftlichen Studien beantragte, die den Herstellungsprozess, die Proteinverdaulichkeit und mikrobiologische Parameter schützen sollte. Diese Daten und Studien sind bis heute unveröffentlicht. Die EU-Kommission hatte in dem Prozess der Verordnung eine Erläuterung zum Geheimhalten dieser Daten gefordert. Der Antragsteller hat damit erläutert, aktuell das nationale Eigentumsrecht (hier: Vietnam) zu besitzen und diese Daten dadurch vor dem Zugriff Dritter schützen möchte. [Q1]. Diese Erläuterung hat genügt, um diese Daten auch in der EU als unveröffentlicht zu akzeptieren. Selbstverständlich hat auch die Kommission ein Gutachten zu dem Insektenpulver erstellt. Inwiefern sich das mit den Daten aus Vietnam deckt, ist unklar. Dies schränkt die Transparenz für den EU – Verbraucher erheblich ein. Auch sollte es zum Nachdenken anregen, dass die dünne, unabhängige Datenlage in den letzten Jahren nicht mehr geworden ist und auch die gesundheitliche Einschätzung bis heute nicht umfassend geklärt ist.
Akt 4: Ernährungsformen
Sollte das Pulver neben Fleischersatz auch in Brot, Pizza oder Gebäck vorkommen, kommen bei einigen Menschen mit vegetarischer oder veganer Ernährung ganz neue Probleme auf. Sind die TK-Pizza Margarita, die Salzbrezeln, das Körnerbrötchen, die Nudeln weiterhin vegan/vegetarisch? Denn auch Insekten sind Tiere und stehen somit nicht auf der Liste der Möglichkeiten von Menschen, die sich fleischlos ernähren. Was passiert mit diesen Menschen? Oder muss es bald veganes und nicht-veganes Brot und Nudeln geben? Das hier sind Fragen, auf die ich noch keine Antwort gefunden habe.
Muslime ernähren sich oftmals halal. Das bedeutet beim Fleischverzehr, dass das Tier ohne Betäubungsmittel geschlachtet wird [Q5]. Dieser Vorgang wird als Schächten bezeichnet. Dabei wird mit einem speziellen Messer das Tier so am Hals aufgeschnitten, dass es vollständig ausblutet [Q6].
Auch bei Juden könnte sich das ein oder andere Problem mit dem Insektenpulver auftun. Juden ernähren sich nach koscheren Ernährungsvorschriften. Wie bei einer Schlachtung für halal-Fleisch, wird auch für koscheres Fleisch geschächtet (dieser Vorgang ist übrigens in Deutschland verboten). [Q7]. Für Juden ist zudem der Verzehr von Insekten nicht gestattet, da dieser laut der Tora nicht den Ernährungsvorschriften entspricht [Q7]. Juden, die in der EU leben und sich an die jüdischen Speisegesetze halten, können im konventionellen Supermarkt vielleicht bald auf Probleme stoßen.
Bei der „Schlachtung von Insekten“ können die Vorschriften des Schächtens nicht eingehalten werden. Zum Töten der Tiere werden diese eingefroren und „schlafen ein“ [Q4]. Diese Art der Schlachtung entspricht weder den Vorschriften von Juden noch denen von Muslimen.
Akt 5: Der Traum von einer Welt ohne Hunger
Viele solcher „Insektenfirmen“ schreiben sich die Lösung des Welthungers auf die Fahnen. Jedoch muss man da leider enttäuschen. Der Einsatz von Pulver der Hausgrille in Lebensmitteln in der EU wird weder den Welthunger beenden, noch das jahrelange Bemühen, weniger Lebensmittel wegzuwerfen. Im Jahr 2020 wurden laut dem Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft 6,5 Mio Tonnen an Lebensmitteln in privaten Haushalten weggeworfen. Das sind
78 kg pro Bundesbürger [Q8]. In diese Zahl sind auch Obstschalen und Kaffeesatz einberechnet, trotzdem verschleiert dies nicht die Menge an Lebensmitteln, die jährlich in die Mülltonnen wandern. Diese Zahl schwankt natürlich, wird jedoch voraussichtlich nicht fallen, bloß weil Insekten im Essen verarbeitet werden. Den hungernden Menschen ist durch die Verordnung nicht geholfen, noch kann Cricket One den Welthunger mit Pulver in der EU lösen.
Die VZHH rät auch von importierten Insekten aus asiatischen Ländern ab. Durch eine erhöhte Nachfrage in westlichen Ländern steigt die Nachfrage und damit auch der Preis der Insekten. Diese sind eine Tierart, die in Asien für viele Menschen ein Grundnahrungsmittel darstellt. Durch die gestiegenen Preise am Weltmarkt können sie sich ihr täglich Brot eventuell nicht mehr leisten [Q4]. Dem gegenüber steht die Chance auf mehr Arbeitsplätze in den Regionen, die nun von der gestiegenen Nachfrage an Insekten produzieren. Dies gilt es zu begrüßen, jedoch stirbt weiterhin alle 13 Sekunden ein Kind an Hunger (Stand: 2020) [Q9]. Die Anstrengung der Welthungerhilfe ist es, bis 2030 den Hunger zu beenden [Q9]. Wie sehr die Insekten da eine Rolle spielen ist unklar. Cricket One Co. Ltd möchte den Welthunger beenden und sieht den Weg darin, Farmer zu unterstützen, ihre eigenen Cricketfarmen aufzubauen und zu etablieren. Um ein Bild zu zeichnen: Der einzig erlaubte Importeur in die EU sind zur Zeit Cricket One, keine andere Farm darf das. Es sei denn, sie verkauft ihre Erzeugnisse an Cricket One, der ohne Wettbewerber auch Ankaufpreise selbstverständlich festlegen darf. Auch braucht es für die Lösung des Welthungers viel mehr als Grillenfarmen. Denn Grillen sind zwar reich an Eiweiß und Fett [Q3], von Kohlenhydraten, welche mit einem kalorischen Anteil von 55 % an aufgenommener Nahrung einen sehr hohen Stellenwert haben, fehlt jedoch jede Spur. Den Teil gilt es noch von Cricket One zu lösen.
Akt 6: Um den Kreis zu schließen
Von Beginn der Antragstellung an so einiges schief gelaufen. Ein Monopol, das sich gesichert wurde, unveröffentlichte Datenlage, dünne, unabhängige Studienlage zu möglichen allergischen Reaktionen. Auch bleibt die Frage des Lebensmittelangebotes in der Zukunft für die Menschen ungeklärt, die durch persönliche Einstellung auf tierische Produkte verzichten oder durch religiöse Speisevorschriften keine Hausgrillen verzehren dürfen, ungeklärt. Offene Fragen, mit denen sich sicherlich nicht die Frau beschäftigen wird, die diese Verordnung unterschrieben hat. Mit ethischen oder moralischen Fragen bleibt man im Regen stehen, während man seine Bratwurst mit 5 % des teilweise entfettetem Pulver aus Acheta domesticus „genießen“ darf.
Quellen: (zuletzt aufgerufen: 03.02.2023)
Q1: https://lexparency.de/eu/32023R0005/PRE/
Q2: https://lexparency.de/eu/32023R0005/ART_3/
Q4: https://www.vzhh.de/themen/lebensmittel-ernaehrung/ernaehrungstrends/insekten-essen
Q6: https://de.wikipedia.org/wiki/Schächten
Q7: https://de.wikipedia.org/wiki/Jüdische_Speisegesetze